BSG Chemie Leipzig - Menschen, Emotionen, Fußball

  • Exakt vom 16.07.2014 "Helmut Schmidt – nimm uns mit!"
    www.mdr.de/exakt/ddr_fussball110.html


    Hexenkessel Leipzig-Leutzsch, die Heimat des BSG Chemie Leipzig. Fans jubeln in den 1980er-Jahren für ihren Verein, weil sie genug vom tristen Alltag in der DDR haben. Chemie-Fan zu sein war damals mehr als Fußball, das war eine politische Entscheidung. Im Stadion wird deshalb offen mit Westvereinen sympathisiert, für Hertha, Borussia Dortmund oder Mönchengladbach und Stuttgart.


    Doch der Konflikt des Vereins und seiner Fans mit dem System hat eine Geschichte. Bereits 1963 fiel Chemie bei Sportfunktionären und SED-Parteigrößen in Ungnade. Die besten Spieler mussten zum Sportclub Leipzig wechseln. Der Rest verblieb bei Chemie. Doch der verbliebene Rest schaffte die größte Sensation im DDR-Fußball und wurde Meister. Doch das System blieb konsequent: Das Abziehen der besten Spieler von Chemie zu Lok Leipzig setzt sich in den nächsten Jahrzehnten fort. Mitte der 1980er-Jahre will Chemie-Torjäger Hans-Jörg Leitzke keinesfalls zum staatlich geförderten 1. FC Lok, doch die Funktionäre lassen dem Stürmer keinen Spielraum, Leitzke muss den Verein wechseln, um weiter Fußball spielen zu können.
    ""Da haben die zu mir gesagt: Herr Leitzke, Sie sind kein schlechter Fußballer, aber die Oberliga geht auch ohne Sie weiter. Sie haben sich bis zu den und dem Zeitpunkt beim 1. FC Lok einzufinden. Ansonsten läuft die Oberliga ohne sie weiter."


    Für die Fans steigt durch die ständige Benachteiligung des Vereins auch der Frust auf die Funktionäre, sie stehen dem Staat nun noch kritischer gegenüber. Fußball war für sie das Ventil, um sich ihrem Ärger über das SED-Regime Luft zu machen, erinnert sich der Fotograf Christoph Grandke. Regelmäßig geht er ins Stadion und entwickelt einen engen Kontakt zu den Fans. Er beschreibt das Verhältnis zwischen Staat und Fans als weitgehend negativ.
    Das wissen auch die Machthaber. Entsprechend präsent sind Polizei und Staatssicherheit im und um das Stadion in Leutzsch. Fotograf Grandke hat auch das versucht, mit seiner Kamera festzuhalten. Was damals gefährlich war.
    "Es gab drei Varianten der Greifer der Stasi und der Polizei. Und zwar gab es einmal die älteren Herren, die im Mantel und Kragen hochgeschlagen immer, fast immer an der gleichen Stelle standen. Kein Wort sagten, nie auf das Spielfeld guckten, sondern nur die Fans im Blick hatten. Dann gab es wie gesagt die Greifer. Das waren junge Offizieren, verkleidet als Fans und dann gab es die Polizei, also mit Uniform und Knüppel. Da musste man auch vorsichtig sein."
    In den Unterlagen der Staatssicherheit finden sich Hinweise, wie darüber hinaus die Leutzscher Fanszene mit Spitzeln durchsetzt wurde. Die Inoffiziellen Mitarbeiter berichten auch über staatsfeindliche Gesänge und Parolen. Dokumentiert ist ein Sprechchor zur Zeit des DDR-Besuchs von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Chemie-Anhänger skandieren damals: "Helmut Schmidt – nimm uns mit!“


    Besonders deutlich bekommt die DDR-Nationalmannschaft den Frust auf den Staat zu spüren. Gerade bei Gegnern aus dem westlichen Ausland, wie im März 1983 im Leipziger Zentralstadion DDR gegen Belgien. Die Heimelf wird vom eigenen Publikum gnadenlos ausgepfiffen, selbst bei eigenen Angriffen. Unter den 75.000 Zuschauern waren laut Stasi-Akten nur 150 Fans aus Belgien. Als die Gäste schon früh mit 1:0 in Führung gehen jubelt fast das ganze Stadion. Der DDR-Nationalspieler Andreas Trautmann war damals auf dem Platz und erinnert sich.
    "Ich denke schon, dass man solche Sportveranstaltungen einfach dazu genutzt hat, um gewisse Einstellungen oder in der Art zu präsentieren. Da waren diese Spiele eigentlich geeignet dafür. Ungerecht ein bisschen uns Spielern gegenüber, aber das war nun einmal so."


    Auch Chemie-Fan Uwe Herziger :herziger: war damals beim Belgien-Spiel im Zentralstadion und hat aus vollem Herzen mitgepfiffen.
    "Es waren eher Pfiffe gegen die DDR. Wenn die DDR dann auch noch schlecht gespielt hat, dann war es noch schöner, denn da war es einfacher. Da konnte man die Pfiffe einfacher erklären. Aber so, natürlich gegen die DDR – logisch. Irgendwo musste man es doch zeigen, sonst konnte man es doch nicht. Man konnte nicht auf die Straße gehen und sagen, hier das ist ein Drecksstaat, das kotzt mich an, ich will hier raus oder was weiß ich, ändert was – ging ja nicht."




    Der Fotograf Christoph Grandke begleitete über zwei Jahre hinweg die Fans des DDR-Fußballvereins BSG Chemie Leipzig mit seiner Kamera. Tore habe er fast nie gesehen, sagt er, dafür Menschen und Emotionen: http://www.mdr.de/exakt/stadion176.html


    :thumbsup: :schal: :fahne:

    Wer Stroh im Kopf hat, fürchtet den Funken der Wahrheit.

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