Die „Eisernen“ Unioner aus Berlin und die Leipziger – eine jahrzehntelange Hassliebe

  • by Jens Fuge


    Rivalität zwischen Union Berlin und den Mannschaften aus der Messestadt gab es schon immer. Vor allem in den achtziger Jahren lieferten sich die Köpenicker und die BSG Chemie Leipzig legendäre Duelle. Aber auch Freundschaften wurden gepflegt.


    Leipzig. Die Beziehungen zwischen dem 1. FC Union Berlin und Leipzig waren schon immer sehr besonders. Vor allem mit Chemie Leipzig verband den Hauptstadtclub über viele Jahre eine Hassliebe. Die beiden „Großmächte der Fanwelt“ der DDR standen sich teils in echter Verbundenheit, aber auch jahrelang in Abneigung gegenüber.


    Drei außergewöhnliche Spiele


    „Bürgerkriegsähnliche Zustände“ attestierte das Ministerium für Staatssicherheit dem Umfeld des legendären Abstiegskrimis am 27. Mai 1984, als Chemie und Union den Schlusspunkt des dramatischsten Saisonverlaufes aller Zeiten setzten. 22. 000 Zuschauer im völlig überfüllten Georg-Schwarz-Sportpark in Leutzsch sahen eine hochdramatische Partie, in der sich die BSG Chemie 2:1 durchsetzte und den Klassenerhalt sicherte.


    Verzweifelte Berliner, die keine Karte mehr erhalten hatten, versuchten, durch die angrenzenden Gärten kriechend, ins Stadion zu gelangen. Wer aufgegriffen wurde, kam in eine Polizeisporthalle und wurde erst nach dem Spiel wieder auf freien Fuß gesetzt. Das Match selbst fand in einer derartig aufgeheizten Atmosphäre statt, wie sie selbst lang gediente Chemiker weder zuvor noch danach jemals erlebt hatten. Es knisterte vor Spannung, es war teilweise so laut, dass die Spieler die Pfeife des Schiedsrichters nicht hörten. Als Chemie ein Abseitstor erzielte, pfiff der Schiri ab, doch niemand bekam es mit. Union erzielte Sekunden darauf ebenfalls ein Tor – es zählte nicht, weil das Spiel längst unterbrochen war. Nur Spieler und Fans hatten es gar nicht mitbekommen.


    Polizei muss Chemie-Fans schützen


    Chemie-Fan Jens Fischer erinnert sich: „Wir standen unten am Norddamm und sahen wirklich so gut wie nichts. Nur, wenn ein Eckball in den Strafraum flog.“ Sieben Minuten Nachspielzeit, Platzsturm der Chemie-Fans und drohende Eskalation, am Leutzscher Bahnhof wurde der Zug der abfahrenden Union-Fans mit Schottersteinen beschossen und schwer beschädigt. Unschöner Höhepunkt einer unglaublichen Woche, die sieben Tage zuvor mit dem letzten Spieltag der DDR-Oberligasaison 1983/84 begonnen hatte. Union gastierte bei Chemie, musste mit zwei Toren Unterschied gewinnen, um auf den Kontrahenten aufzuschließen. Die Gäste gewannen 2:0, sorgten für Entsetzen und standen, beispiellos bis dahin, tor- und punktgleich mit Chemie auf dem vorletzten Tabellenplatz.


    Das bis dato nie Dagewesene trat ein: Entscheidungsspiele mussten her. Da nach Europacup-Arithmetik gewertet wurde, konnte sich Chemie nach dem mittwöchlichen 1:1 an der Wuhlheide glücklich schätzen. Die mehr als 1000 Chemie-Fans allerdings auch, denn sie wurden von der Polizei vor den vor Wut tobenden Union-Horden rund um das Stadion per Polizei-Lkw in Sicherheit gebracht. Chemie-Fan Jens Hessel bekennt im Fan-Buch „Steigt ein Fahnenwald empor“: „Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Angst beim Fußball.“ Am Ende hatten 66. 000 Zuschauer innerhalb einer Woche drei hochdramatische, außergewöhnliche Spiele gesehen – und eskalierende Fangewalt der beiden größten Fangruppen des Landes, die unmittelbar aufeinander getroffen waren.


    Ähnliche Ausgangssituation


    Dabei standen sich die Fans von Union und Chemie anfänglich sehr nahe, schon aufgrund der ähnlichen Umstände ihres Daseins, hatten sie doch in ihrer Stadt jeweils mit übermächtigen, vom DDR-Sportsystem bevorzugten Kontrahenten zu tun. Stasi-Club BFC Dynamo wurde von den Schiedsrichtern gehätschelt und getätschelt, schon weil jeder Angst vor Stasi-Minister Erich Mielke hatte, welcher offiziell größter Fan des BFC war. In Leipzig gehörte der 1. FC Lok zur Riege der staatlich geförderten/bevorzugten Clubs, obwohl Chemie mit zwei Meistertiteln und einer riesigen Fanbasis der weit populärere Verein war. Das Gefühl des „Benachteiligtseins“ einte die ansonsten in inniger Feindschaft verbundenen Preußen und Sachsen temporär.


    Enge Freundschaften zwischen einzelnen Protagonisten wie den Fanclubs „VSG Wuhlheide“ und „Fanclub West“ bestanden viele Jahre lang. Die Sympathien vergingen erst nach einer bösen Massenschlägerei am 30. April 1980. Union hatte mit seinem 2:0 in Leutzsch die BSG mit in den Abstieg gezogen, die Enttäuschung eskalierte, das Tuch war zerschnitten. Doch der Fußballgott ist manchmal ein Hooligan, und so mussten Chemie und Union im Pokal regelmäßig gegeneinander antreten. Im Oktober 1981 kamen eine gute Union-Mannschaft samt 2000 auf Krawall gebürstete Fans nach Leutzsch. Nach dem Sieg im Elfmeterschießen stürmten die Berliner Fans den Dammsitz und sorgten für unglaubliche Szenen.


    Finanzielle Schieflagen


    Erst 1994 trafen beide Vereine wieder aufeinander. Unter komplett veränderten Bedingungen nach der Wende hatte man erneut die gleichen Probleme, litt unter dilettantischen Präsidenten, einem Zuviel an Größenwahn und Selbstüberschätzung, dafür aber permanentem Geldmangel. Am Rande der Pleite standen beide Clubs, Lizenzverweigerungen kannten sie ebenfalls. Nur die Fans standen immer gerade, auch wenn ihre Anzahl damals dramatisch sank. Gerade mal 2184 Zuschauer waren am 31. Juli 1994 in Köpenick beim 1:1 dabei.


    Später gehörten beide Vereine zum Imperium des Filmrechtehändlers Michael Kölmel – und von da an trennten sich die Wege. Denn während der FC Sachsen arrogant und ungehemmt sowie ohne Sinn und Verstand Kölmels Kohle verprasste, hielt man An der Alten Försterei die Penunzen zusammen und sanierte sich Stück für Stück.



    Mit der fehlenden sportlichen Rivalität rückten die Fans wieder enger zusammen und organisierten 2001 sogar Benefizspiele füreinander. 2015 zeigten 2000 Unioner ihre Sympathie, als sie beim Spiel der Traditionsmannschaften (!) nach Leutzsch kamen und erst verspätet zum Spiel ihrer ersten Mannschaft gegen RB pilgerten.


    Am 31. Mai 1986 hatte auch der andere Leipziger Verein, der 1. FC Lok, ein wichtiges Spiel gegen Union. Im Finale des FDGB-Pokals gewann man 5:1 gegen die Hauptstädter, es war also nicht im Ansatz so dramatisch wie die Spiele gegen Chemie. Den großen Auftritt an jenem Tag hatten wiederum die Chemiker. 250 Grün-Weiße schauten sich das Vorspiel an, in dem sich traditionell die Finalisten des Endspiels vor 20 Jahren gegenüber standen. 1966 waren dies bekanntlich die BSG Chemie und Lok Stendal gewesen. Nach Abpfiff des Vorspiels leerte sich der Block der Leutzscher zur Verwunderung der restlichen Zuschauer. „Denkt ihr wirklich, wir schauen uns das Spiel von Lok an?“, hieß es zur Aufklärung. Diese Rivalität war also noch größer als jene zu Union Berlin.


    Quelle: https://www.sportbuzzer.de/art…ahrzehntelange-hassliebe/