Das große Spiel

  • Leipziger Volkszeitung 4.11.2011


    Leipzig. Ein kalter Septembermorgen im Jahr 1984. An den Gleisen des Hauptbahnhofs wartet eine Gruppe junger Leute auf einen Zug. Müdigkeit herrscht, denn es ist noch sehr früh am Morgen. Immerhin ist die Gruppe wach genug, um zu bemerken, dass sie von mehreren Stasi-Leuten beobachtet wird...
    Gegen 6.52 Uhr rollt endlich der erwartete Zug ein: "15 Agenten und Spione aus Bonn", so wird die Staatssicherheit kurz darauf notieren, "steigen aus - getarnt als Fußball-Fans. Versehen haben sie sich mit so harmlosen Decknamen wie Wolle, Tommy, Wulf, Udo oder Chris..."
    Was der DDR-Geheimdienst für Tarnung hält, ist keine - die jungen Leute, die an diesem Morgen zur Messezeit aus dem Zug steigen, heißen tatsächlich so. Und es handelt sich bei ihnen nicht um Agenten und Spione, sondern eine Jugendgruppe vom Rhein, die eine große Leidenschaft mit den Leipziger Jugendlichen auf dem Bahnsteig teilt: Sie sind allesamt Fußball-Fans! Und alle treten selbst gern den Ball - die einen eben in Bonn, die anderen in Leipzig.
    Nun möchte man zum deutsch-deutschen Freundschaftsspiel aufeinander treffen. Da DDR-Bürger eingeschlossen sind und den Rhein lediglich auf Postkarten besichtigen dürfen, bleibt nur der umgekehrte Weg: Die Bonner machen sich auf an die sächsische Pleiße. Zur Herbst-Messe 1984.
    Ihren Anfang nahm die politisch harmlose Begegnung im Bockenheimer Bembel, einer Fußball-Fanclub-Zeitung, in der die Anhänger des Bonner SC nach Spielpartnern für die eigene Elf suchten. Völlig unerwartet kam eine Antwort aus dem Osten - Fans von Chemie Leipzig schrieben zurück.
    Wie die Zeitung dorthin gelangt ist, konnte später keiner mehr sagen. Doch die Idee einer Ost-West-Begegnung zündet sofort. "Wie" - so überlegen die jungen Leute beidseits der Grenze - "ließe sich das gemeinsame Fußballspiel organisieren?" Im innerdeutschen Jugendaustausch herrscht 1984 Eiszeit, die DDR-Organe blockieren jede Begegnung. Doch irgendwie muss das doch möglich sein?
    Jens, einer der Leipziger Fußball-Fans, hat da eine zugkräftige Idee: Je eine Gastfamilie aus Leipzig solle einen Bonner Jugendlichen einladen. Am besten zur Messezeit, denn da erwartet man die wenigsten Schwierigkeiten, verläuft die Abfertigung bei der Einreise lockerer als üblich...
    Ins Auge gefasst wird die nächste Leipziger Messe - die im Herbst 1984.Die Staatssicherheit bekommt Wind von der Spielabsicht, das Verhängnis nimmt seinen Lauf:
    Die Jungen geraten unter massiven Druck, das deutsch-deutsche Fußballspiel ist zu verhindern! Jens, der die Idee dazu hatte, wird zum "Rädelsführer" ernannt und eines Morgens von vier Stasi-Leuten abgeholt. Allen wird eine Ordnungsstrafe von 1000 Mark angedroht sowie Verbot für sämtliche DDR-Stadien, sollte der Ball deutsch-deutsch rollen. Die Jugendlichen sind eingeschüchtert und geben auf. Scheinbar.
    Um den Verzicht zu überwachen, kreuzen zum angesetzten Spieltermin am Leipziger Sportplatz zwei Polizeiautos sowie der Lada mit den vier Stasi-Leuten auf.
    Und - die Gäste aus Bonn? Fünfzehn junge Leute brechen noch ahnungslos und gut gelaunt zur Herbstmesse in den Osten auf. Problemlos passieren sie die innerdeutsche Grenze, in den Koffern Gastgeschenke: Ein Satz Trikots, Ball und Torwarthandschuhe für die gegnerische Mannschaft. Ihre Gruppe besteht aus einer jungen Frau und 14 jungen Männern im Alter von 19 bis 26 Jahren. Sie stammen aus allen Schichten der Bevölkerung: Arbeiter und Angestellte sind darunter, Arbeitslose, Azubis und Studenten.
    Dass es keine einfache Reise wird wie nach Paris, ist klar - Fans mit leichtem Hang zur Randale lässt man fürsorglich in Bonn zurück.
    Und dann, eines Morgens im September 1984, steht man sich gegenüber - "beklommen, unbekannt, fremd", wie einer der Jungen sich erinnert. Doch die Hemmungen sind rasch überwunden. "Wir sind sehr schnell miteinander warm geworden", erinnert sich ein ehemaliger Biologie-Student aus Bonn, "obwohl wir uns ja nur durch den Briefkontakt kannten."
    Nun allerdings erfahren die Gäste auf dem Bahnsteig, dass die Leipziger Staatsorgane das Spiel schon im Vorfeld abgepfiffen haben - ohne Begründung. Das ist ein Schock. So will man wenigstens Leipzig genießen. Herzlich werden die Rheinländer in den Familien der sächsischen Fans aufgenommen. Man schaut sich - wenn man schon nicht selbst spielen darf - gemeinsam ein Fußballspiel an: Chemie Leipzig gegen Frankfurt/Oder. Man erkundet mit den neuen Freunden die Stadt - das Völkerschlachtdenkmal, das Messegelände, die Thomaskirche... Man guckt mit den Gastfamilien die Sportschau auf beiden Kanälen und macht sich am Abend "landfein" für die Disco.
    Der Abschied fällt schwer. Doch dass aus dem Fußballspiel, dem eigentlichen Grund ihrer Reise, nichts wurde, muss ja nicht so bleiben. Gemeinsam tüfteln die jungen Leute aus Ost und West an einem leisen, intelligenten Widerstand: Zur Frühjahrsmesse 1985 will die Truppe aus Bonn erneut einreisen - einzeln und unauffällig. Denn die Messe fällt diesmal mit Ostern zusammen; bei einem doppelten Reisestrom kann man mit weit gefächerter Aufmerksamkeit der Leipziger Polizei und Staatssicherheit rechnen...
    Der Plan geht auf, und diesmal gelingt auch das Freundschaftsspiel! Sechs Tore fallen, die Stimmung ist bestens. Leipzig gewinnt, doch das ist eigentlich unwichtig. Man feiert in der Carola-Bar, fährt zusammen nach Dresden und guckt sich andere Fußballspiele an. Die Staatsorgane der DDR kommen erst dahinter, als alles gelaufen ist. Die Konsequenzen: Unbefristetes Einreise-Verbot für die Westler!
    Die aber wollen das nicht hinnehmen, beschweren sich im Innerdeutschen Ministerium in ihrer Hauptstadt Bonn. Dort trifft aus dem Osten wenig später die Nachricht ein: Die "betreffenden Personen gelten in der DDR als unerwünscht!
    Unerwünscht wegen eines Fußball-Spiels. Die jungen Leute lassen sich nicht einschüchtern. Schon kurz darauf trifft man sich in Prag: Für das Länderspiel CSSR-Bundesrepublik Deutschland haben die Bonner Karten für alle besorgt. Und außer einem - dem sogenannten Rädelsführer Jens - dürfen auch alle Leipziger ins sozialistische Nachbarland fahren. Im Fußball-Stadion von Prag kommt es 1985 zu einer vorgezogenen Wiedervereinigungsfeier: Von den etwa 10000 deutschen Fans, welche die Beckenbauer-Truppe anfeuern, stammen 8000 aus der DDR... Dass die Tschechen mit 5:1 unterliegen, ist nur einer der Gründe zum Feiern...
    Die Fans aus Leipzig und Bonn bleiben in brieflichem Kontakt, mal mehr, mal weniger. Und eines Tages passiert, womit niemand mehr gerechnet hat: Die Mauer fällt!
    Bereits im März 1990 kommt es zur neuerlichen deutsch-deutschen Begegnung - diesmal in Bonn, wohin Ostler jetzt völlig ungehindert reisen dürfen. Sie alle sind jetzt so um die dreißig, die ersten haben Kinder. Das Wiedersehen verläuft im Rausch des Mauerfalls, es herrscht ein nicht endendes Wundern und Staunen, dass man sich nun so völlig unkompliziert treffen kann. Sie finden einander immer noch sympathisch, so bringen sie im Jahr darauf ihre Frauen mit. Der gemeinsame Ausflug geht nun nach Bayern.
    Noch heute - nun schon mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall - steht man in lockerem Kontakt...
    Wie viele solcher deutsch-deutschen Begegnungsgeschichten ließen sich erzählen? Wie viele Geschichten, die von Schikanen durch DDR-Polizei und Staatssicherheit strotzen? Man kann sie auflesen in allen Teilen Deutschlands. Sie liegen meist unterhalb der Ebene von Knast oder Erschießungen an der innerdeutschen Grenze. Doch gerade sie spiegeln ein Stück deutscher Geschichte, erinnern an einen DDR-Alltag voller Willkür und Schikane.
    Doch sie spiegeln auch die Gewitztheit von Bürgern in Ost und West, jenen Einfallsreichtum wider, ohne den die innerdeutschen Beziehungen wohl tatsächlich verkümmert wären.
    Die Fußball-Geschichte erzählt von Neugier und Gastfreundschaft vonseiten Leipziger Eltern. Sie erzählt von einer Begegnung auf Augenhöhe zwischen Ost und West.
    Voreingenommenheiten und mittlerweile ritualisierte gegenseitige Abwertungen sucht man vergeblich unter diesen Leuten, die nun bereits auf die 50 zugehen.
    Gewiss, es klemmt noch immer ein wenig zwischen Ost und West, vor allem dort, wo Klischees fest zementiert sind. Gegenseitige Akzeptanz und unaufgeregte Sympathien aber kann man überall dort beobachten, wo gleiche Interessen einer Begegnung zugrunde liegen...
    iDer Beitrag ist aus dem Essay von Freya Klier "Spione aus Bonn" mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnommen.



    Gute Laune trotz Regens: Fans vom Bonner SC und vom Chemie Fanclub Chemie Leipzig-West 1984 zur Leipziger Herbstmesse 1984 auf dem Sachsenplatz.Fotos/Repros (4): Westend

  • Was war denn das heute beim Lesen der LVZ ? War ich überascht.Eine ganze Seite über uns in der LVZ Beilage "Magazin".
    Das Spiel war übrigens bei Fortschritt / MoLi in der Demmeringstraße.Unsere Heimspielstätte.
    Mann waren das geile Zeiten.
    Ja, das waren wir.Die Jungs vom Fanclub West.
    Und ja, wir sind immer noch bei der BSG Chemie Leipzig, heute wie damals.


    PS. Beim Rückspiel in Bonn mit Gastspieler Obi. (rechts unten,kleines Foto aus Bonn ,untere Reihe 4.von rechts)


    :NdBSG:

  • t


    Ersteinmal danke für das Einstellen!!!!!!!!!!!


    Mensch Sid, als wir zum ersten Male sahen, hast Du davon ne Menge berichtet; wir haben darüber ne Menge Bier getrunken! Vielleicht kannst Du hier nochmal nachlegen!