ÜBER LEUTZSCH LACHT DIE SONNE ÜBER LOK DIE GANZE WELT
Ray Schneider
Alles zum Wohle des Volkes" hat unter DDR-sozialistischen Bedingungen natürlich auch bedeutet, dass der Sport ganz im Dienste des politischen Kurses zu funktionieren hatte. Der Leistungssport diente als Propagandamittel, das der Bevölkerung zeigen sollte, wie effizient die realsozialistische Maschinerie arbeitet, aber vor allem, wie überlegen das System des Ostens gegenüber dem des "Klassenfeindes" in Wirklichkeit war.
Während jeder Bezirk der DDR die Talente der Region in sportlichen Elitezentren ermittelte, zu "Leistungskadern" aufbaute und diese den Sportfunktionären für die Umsetzung ihrer Pläne jederzeit zur Verfügung stellte, wurde der Massensport über die Betriebssportgemeinschaften (BSGs) oder andere gesellschaftliche Organisationen organisiert. Sportliche Erfolge wurden durch "Delegierungen" (Zwangs-Beförderungen) von Leistungsträgern künstlich erzeugt, und dass vom Kinderbereich über die Kinder und Jugendsportschulen bis hin zu den Profis. Der gesamte sportliche Wettkampfbetrieb wurde von obersten Stellen manipuliert und vereinnahmt. Sportliche Karrieren waren somit immer mit Unterwerfung und somit Zusammenarbeit mit den politischen Organen verbunden. Die Spitzensportklubs der DDR waren natürlich die der Polizei und der Armee, und sportliche Erfolge ( die mit militärischen Auszeichnungen entlohnt wurden) verbanden sich jeweils mit Erhöhung des Dienstgrades.
Mit Honecker verflachte in den Siebzigern Ulbrichts Ausrichtung der DDR auf eine gleichgeschaltete sozialistische Volksgemeinschaft, gewannen bürgerliche und individuelle Freiheiten westlicher Prägung neue Bedeutung. Der Lebensstandard der Leute stieg, Familie und Freizeitgestaltung machten wieder den Sinn des Lebens aus. Wer sich in die kleinbürgerlichen Verhältnisse einpasste, fand seine politikfreien Nischen und wurde mit pseudowestlichen "Errungenschaften des Sozialismus" belohnt. Der Leistungs- und Wettkampfsport diente immer mehr als Propagandainstrument.
Im Fußball gab es die Oberliga, in der die Klubs der Leistungszentren der DDR-Bezirke um die Teilnahme an internationalen Vergleichen spielten. Nur ganz wenigen BSGen (ausschließlich die von Großbetrieben wie der WISMUT, der Autoindustrie oder der Chemiekomplexe im Süden) gelang es, in der Liga der Klubs mitzuspielen, meist nur um den Klassenerhalt, denn die "guten" Spieler wurden sofort zu den Spitzenklubs delegiert. Die Kaderschmiede und die Nachschubbasis der Oberliga bildeten die fünf DDR Ligen der zweithöchsten Spielklasse, die untereinander jeweils die zwei Aufsteiger in die Oberliga ermittelten.
In der Bevölkerung galten die BSGen (meist alte Arbeiter- oder Traditionsvereine) als underdogs und Antipoden der SED-gesteuerten Fußballklubs. Durch diese hineininterpretierte "politische Komponente" gestalteten sich Vergleiche zwischen BSGen und Polizei-, Stasi- oder Armeeklubs oft zu politischen Veranstaltungen, bei denen unter dem Deckmantel des Sports und aus der sicheren Masse heraus politische Meinungsäußerungen möglich waren, ein symbolischer Machtkampf zwischen "unten" und "oben" stattfand.
Folgerichtig sammelte sich um solche Vereine dann auch ein spezielles Protestpotential, bei dem das Interesse am Verein weit über den sportlichen Aspekt hinausging. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Vereine Union Berlin und Chemie Leipzig, die sich als einzige höherklassige Teams der DDR in der eigenen Stadt mit Konkurrenzklubs wie dem BFC und dem 1. Lokomotive Leipzig konfrontiert sahen. Anhänger aus der ganzen Republik sympathisierten mit beiden Vereinen. Bei Auswärtsspielen begleiteten hunderte bis tausende Jugendliche die Teams, was folgerichtig oder gezielt zu Konfrontationen mit den staatlichen Organen und spektakulären Skandalen führte. Die Medien verschwiegen diese Vorkommnisse bewußt und sorgten somit dafür, daß es zum Kult oder zum Ausdruck der eigenen Oppositionshaltung wurde, sich zum Anhänger von Union oder Chemie zu bekennen.
"Schlagt dem Erich Mielke die Schädeldecke ein!
Blut soll fließen, Blut soll fließen.
Hoch lebe die Chemie-Republik!"
Leipzig, mit 600 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der DDR, hatte eine ganz spezielle Fußballtradition. In den 50ern und 60ern hatte man mehrmals versucht, den beliebten Arbeiterverein aus Leutzsch zugunsten eines künstlich geschaffenen Elitevereins (das Leistungszentrum des Bezirkes 1. FC Lokomotive Leipzig) aufzulösen. Die Trotzreaktion von Sportlern und Fußballanhängern führte dazu, dass der Todgeglaubte wie Phönix aus der Asche aufstieg und sowohl vor, wie hinter dem Spielfeldrand den Polit- und Sportfunktionären peinliche Auftritte lieferte.
Die Zugehörigkeit der Anhänger zum jeweiligen Verein machte sich aber auch am Wohnort und der Beeinflussung durch Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld fest. In den Metallbetrieben des Westens hatten Arbeiter ganze "Chemiealtäre" aus Mannschaftsfotos der Meistermannschaft und alten Fahnen über ihren Maschinen errichtet. Die Mehrzahl der Chemieanhänger kam aus den Arbeitervierteln des Nordens und Westens, die von Lok aus dem Osten und Süden. Schaffte Chemie mal wieder den Aufstieg in die Oberliga, schlugen ihr die Sympathien der Mehrzahl der Leipziger entgegen, übertraf man die Zuschauerzahlen des Ortsrivalen um das Mehrfache.
Die traumatischen Erfahrungen der Leipziger Jugendlichen aus den Beatkrawallen 1965 auf dem Leuschner Platz (Polizei prügelte auf tausende Jugendliche ein und deportierte sie in die Braunkohle zur Zwangsarbeit), das Verbot der Leipziger Band Renft Mitte der Siebziger und die Krawalle mit der Polizei bei der 1000-Jahrfeier 1974 in Altenburg hatten in und um Leipzig eine Jugendszene hervorgebracht, die sich von der staatlichen Jugendpolitik nichts mehr vormachen ließ und Konfrontationen mit der Staatsgewalt nicht auswich. Bei Auswärtsfahrten der Chemieanhänger in den Siebzigern kam es ständig zu Krawallen. In Eisleben und Wolfen kam es zu Massenschlägereien mit Polizeieinheiten, bei Fahrten in Regionen des Harz zu Einsätzen der Grenztruppen der DDR. Dabei handelte es sich aber um keinen gezielten Protest gegen Staat und Partei, sondern vielmehr um ein sich Auflehnen gegen die Zustände allgemein - gegen die zahlreichen Verbote, gegen Willkür und Polizeigewalt, gegen das Eingesperrtsein in der DDR und die beschnittenen Freiheiten. Da es eine politische Opposition in der DDR nicht gab, hinter deren Forderungen man sich stellen konnte, kippten Protestausbrüche schnell in platt-antikommunistisch/antisowjetische und großdeutsche Ausbrüche. (Rassistische, neofaschistische und antisemitische Äußerungen gab es in den Siebzigern jedoch kaum.) Gegenüber der DDR-Propaganda, die sich in den Anfangsjahren der Honecker-Ära staatlich, geschichtlich und völkisch immer mehr als eigenständig und losgelöst von der BRD darstellte und Verbindungen mit den Ländern des Ostens konstruierte, bezogen sich die Fußballfans ständig auf den Westen. Jeder hatte neben seinem hiesigem Verein einen Favoriten im Westen. Auf wilden Schwarzmärkten vor den Kassenhäuschen in Leutzsch und Probstheida wurden Poster, Wimpel und Anstecknadeln von Westvereinen angeboten. Übertragungen der Bundesligaspiele oder von Länderspielen waren Straßenfeger. Ende der Siebziger explodierte der Tourismus von DDR-Jugendlichen zu Fußballspielen westlicher Teams in die CSSR, nach Polen und Ungarn. Bis zu mehreren Hundert Jugendliche (meist Berliner, Chemiefans und Jugendliche aus den Großstädten des Südens) bildeten bei Spielen in Prag und Bratislava ganze Fanblöcke und konfrontierten die örtliche Bevölkerung mit pseudowestlicher Lebenskultur, die man auf Saufen, Provozieren und Randalieren reduzierte. In den Achtzigern fingen tschechische Polizisten DDR-Jugendliche bei Razzien dann einfach von der Straße oder aus Kneipen weg, sperrten sie unter Tränengas in zugesperrte Sonderwaggons und schickten sie zurück über die Grenze.
"Trinkfest und arbeitsscheu
und Chemie Leipzig treu
meine BSG Chemie
verlaß ich nie!"
Eine pseudowestliche Fankultur aus Rebellen-, Landstreicher-, Abenteurertum entwickelte sich in der DDR zuerst bei den zwei Vereinen Chemie und Union und setzte sich bei den anderen Vereinen erst Ende der 70er Jahre durch. Eine eigene Fankultur entwickelte sich in Leipzig unter den Chemiefans aber erst Anfang der Achtziger. Dabei machte sich diese Kultur mehr an Strukturen und Formen der Selbstorganisation fest, als an Äußerlichkeiten. Die Mode der Fußballfans unterschied sich gegenüber der der anderen Jugendlichen nicht wesentlich. Schals und Fußballwesten trug man überall auf den Fußballplätzen. Die erste Punk- und Skinheadgeneration (ca. ab 1981/82), die ja öffentliche Auftritte suchte, etablierte sich in Leipzig jedoch nicht wie in Berlin beim Fußball. Dazu war die Stadt dann doch zu klein und die Szene zu mitgliederschwach. Die ersten Punks sah man etwa ab 1984 bei Chemie. Sie nahmen jedoch jahrelang nur eine Gastrolle ein, bestimmten bis nach der Wende nie wirklich das Geschehen.
Auch die Erfindung eigener Sprechchöre und Schmählieder gegen Politiker und gesellschaftliche Organisationen war keine ausschließlich Leipziger Eigenart. Dass das ganze Stadion aber "Scheiß NVA" oder "Stasischweine" rief, war dagegen sicher nicht typisch für alle DDR-Stadien. Chemiefans, die bei Länderspielen oder EC-Vergleichen von Lok im Zentralstadion fast immer den Gegnerblock unterstützten, gaben sich fortan auch immer Mühe, die Sprechchöre so zu puschen, dass bald das ganze Stadion (live übertragen) "Nieder mit der DDR" skandierte und in Jubel ausbrach, wenn der Gegenangriff lief. Die Reaktion war dann meist, dass bei Übertragungen aus Leutzsch, der Wuhlheide oder dem Zentralstadion der Ton völlig heruntergefahren wurde.
Nach der WM 1974 und 78, bekam der Fußball immer mehr eine "Show"-Komponente, wurde er von den Medien und der Werbeindustrie zunehmend als Konsumprodukt für alle Bevölkerungsgruppen ausgeschlachtet. Die ungebändigte Rebellenjugend mutierte weitgehend zur Konfetti- und Papierschlangen-werfenden Hintergrundkulisse. Zäune trennten die Zuschauer nun fast überall vom Spielfeld, Sicherheitsbeamte sorgten dafür, daß es im Stadion nicht zu größeren Exzessen kam. Die "Action" fand daraufhin meist ums Stadion und unter den Fans statt. Halle, Jena, Erfurt, überall gab es die gefürchteten Parks oder Fußgängerzonen, in denen sich die Fans gegenseitig auflauerten und prügelten. Wer zum Fußball ging, der wusste, dass es nach Fußballspielen zu Massenschlägereien unter den Fans kam, dass in Zügen und Bahnhöfen randaliert wurde, dass es für die eigene Sicherheit gefährlich werden konnte. Man wusste aber auch, dass die Masse der Fußballfans unheimlich viele Freiheiten bot, dass beim Fußball Dinge möglich waren, für die man als Einzelperson im Alltag sofort "abgehen" würde. Die Aggressivität der Fans beschränkten sich auf das Symbolisieren der eigenen Überlegenheit im eigenen Terrain oder in der fremden Stadt, auf das "Ruppen" (das Erobern gegnerischer Symbole wie Schals, Fahnen und Abzeichen) oder waffenlose Prügeleien. Es gab aber nicht nur die Rivalität unter den verschiedenen Städten und Mannschaften, sondern auch die Rivalität unter den (in der DDR offiziell nicht mehr existierenden) Ländern Sachsen, Preußen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg. Gerade die Rivalität zwischen Sachsen und Preußen spitzte sich in den Achtzigern (in denen die Hauptstadt besonders bevorzugt wurde und der Hauptstadtclub BFC zur DDR-Vorzeigemannschaft zurechtgebastelt wurde) immer mehr zu. Da es ein Problem "Fußballrandale" offiziell nicht geben durfte, wurde von Seiten der Behörden im Vorfeld nie konsequent genug geplant und eingegriffen. Ende der Siebziger kam es bei Fußballspielen dann vermehrt zu Toten, meist außerhalb des Stadions. Die Todesfälle wurden durchgängig verschwiegen und lebten nur unter den Fans als Mythen fort.
Wo es sich aus der ungünstigen Ligaposition einer Mannschaft jedoch ergab, dass keine gegnerischen Fangruppen existierten (wie bei Chemie in der Liga), kam es vorrangig zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Schließlich wurden Polizeihunde umgebracht, Tonis umgekippt, Volkseigentum beschädigt oder Parteisymbole bewusst geschändet. Gummiknüppel, Teleskopschlagstöcke, Knebelketten und Polizeimützen waren begehrte Trophäen. Traten Chemiefans auswärts in Massen auf, wie beim Gang vom Bahnhof zum Fußballstadion, dann schlugen diese Menschenzüge oft in Demonstrationszüge mit politischen Parolen gegen Staat und Partei um. Anfang der Achtziger zogen Fans regelmäßig vom Leipziger Hauptbahnhof als Demonstrationszug in die Innenstadt und mussten von der Polizei dort mühsam und vor der erschreckten Bevölkerung gewaltsam aufgelöst werden. Dem massenhaften Auftreten von Unionern und Chemiefans traten die Einsatzskräfte (gerade in der Provinz) oder die Zugbegleitungen völlig hilflos entgegen. Zu Fußballspielen bewegte man sich fast ausschließlich mit dem Zug. Schwarzfahren wurde zum Sport und mancher Transportpolizist oder Schaffner, der sich mit den Fans anlegte, wurde gedemütigt oder sogar aus dem Zug geworfen. Schließlich kam es dazu, dass die Union- und Chemiefans mit Sitzblockaden auf Kreuzungen u.ä. die Einsetzung von Sonderzügen oder Sonderwaggons erzwangen.
Zu einer einzigartigen Fanfreundschaft kam es über fast zwei Jahrzehnte zwischen den Fans von Aue und Chemie. Man begleitete sich gegenseitig zu Heim und Auswärtsspielen im gesamten Gebiet der DDR, organisierte untereinander Fahrten, Treffen und Wettkämpfe. Ausgangspunkt dafür waren die Kontakte des Chemiefanclubs "Grüne Engel" (gegr. 1975) mit Fans aus Aue, die in den beginnenden Achtzigern mit dem Fanclub Connewitz (gegr. 1979) und Cottbuser Fans und dem Fanclub West (gegr. 1981) mit der VSG Wuhlheide Nachahmung fanden. Fanfreundschaften bestanden bei Chemie außerdem nach Magdeburg und Riesa.
1981/82 kam es zum Aufblühen einer neuen Fanclubkultur bei Chemie. Da die Fanclubs bei Chemie eigenständige Organisationen darstellten, also völlig losgelöst vom Verein und jeder staatlichen Kontrolle, wurden sie von den staatlichen Organen nicht geduldet und verfolgt, sobald sie sich öffentlich zu erkennen gaben. Einzelne Fanclubs nannten sich daraufhin VSG (Volkssportgemeinschaft) oder gaben sich Phantasienamen wie "Ortsgruppe Plagwitz". 1983 war die Anzahl der Fanclubs bei Chemie auf ca. 80 angestiegen. Den Behörden fiel es immer schwerer Argumente für das Verbot zu finden oder die Strukturen aufzulösen. Wo man von offizieller Seite keine Unterstützung fand wie es bei Union möglich war, wo man die Fanaktivitäten unter dem Deckmantel "Union-Jugendclub" laufen lassen konnte, agierte man völlig eigenständig selbst und an allen Organen und Vorschriften vorbei. Man trug unter den Chemiefanclubs jährliche Fanclubmeisterschaften mit Hin- und Rückspielen aus, organisierte überregionale Fanpokale von Freizeit- und Volkssportteams und machte in der Freizeit viel miteinander. Die einzelnen Fanclubs organisierten eine Art Vereinsleben, teilweise mit klaren Regeln und Programmen außerhalb des Fußballs, man führte Chroniken, Fanzines entstanden. Fast wöchentlich gab es bei den unorganisierten Fanteams Freundschaftsspiele mit Volkssportmannschaften und Freizeitteams, wurde man schließlich sogar zu offiziellen Turnieren von Sportgemeinschaften und Betrieben geladen. Die Kontakte der Fans gingen bald über die Stadtgrenzen hinaus. Nachdem Chemiefanclubs 1984 zum jährlich stattfindenden Union Fanpokal eingeladen wurden, nahmen zwölf Mannschaften an der 1. DDR-Fanclub-Meisterschaft in Berlin teil. Ausrichter war wie beim Union-Fanpokal der Union-Jugendklub. Zwei Chemiefanclubs teilten sich den dritten Platz. Im Folgejahr organisierten Chemiefans die 2. Meisterschaft in Leipzig. Fortan kam es regelmäßig zu Vergleichen und Turnieren verschiedener Fanteams, teilweise sogar vor jedem Auswärtsspiel.
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