Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig
Eure Armut kotz uns an! Für einen Kiez für Alle, die drin wohnen!
Eine Solidaritätsadresse ans »Pivo« und die vielen anderen falschen Feindbilder selbsternannter Kiez-Milizen.
Seit Monaten tobt der Kampf um die Straße, um Gentrifizierungskritik, um Zugezogene, neue und alte Feinbilder und liebgewonnene Stereotype in Connewitz' Straßen und Gassen. Ganz im Stile des autonomen 80er-Jahre Häuserkampfs, antiimperialistischer Theoriefragmente und rasanter Klassenkampfattitüde wird auf die zunehmende Wohnraumverdrängung, steigende Mieten, möglicherweise falsch laufende Stadtplanung und die damit einhergehende »soziokulturelle« Veränderung des Stadtteils hingewiesen. Mitnichten wollen wir diese Entwicklungen negieren. Wir teilen die Kritik – manche von uns vielleicht etwas differenzierter oder nicht so vehement, andere wiederum mit weniger Holzschnittartigkeit – durchaus. Die Soziale Frage ist im Kiez angekommen. Auch wir wollen, das Connewitz noch möglichst lange lebenswert, bezahlbar und »anders« bleibt.
Mit der Gentrifizierung ist das jedoch eine ziemlich komplexe Sache. Als Kampfbegriff hat sie sich fest ins Vokabular linker Stadtteilpolitik etabliert. An jeder zweiten Häuserwand prangt sie in großen Lettern. Was im Kontext von Streetart und Straßenkampfromantik sowie dem Sammelsurium an alltäglichen Ungerechtigkeiten vielen Leuten nachvollziehbar und plausibel erscheint, ist jedoch als politischer wie wissenschaftlicher Theorieansatz um einiges komplizierter. Wer kennt schon genau den »doppelten Invasions-Sukzessions-Zyklus«? Wer ist im Kontext von stadtpolitischen Veränderungen ein »Gentrifier« und wer ein »Pionier« und was tragen wir selbst zu den Prozessen bei? Welche Rolle spielen die aktuelle Konstitution von Kapitalismus und kapitalistischer Vergesellschaftung? Vor allem bei der Schuldfrage in Sachen Verdrängung und Umstrukturierung wird es haarig: je mehr man da das Abstraktionsniveau verlässt, umso problematischer und verkürzter werden die Zuschreibungen. Die Frontstellung scheint dabei für Viele glasklar: »gut« sind wahlweise die »alternativen« oder »alten« Strukturen, die sich scheinbar den Verwertungsprozessen entziehen, »böse« alles »Neue« und »Moderne«. Galt lange Zeit der »Spekulant« – nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands – als antisemitische Chiffre auch in der Linken als tabu, so ist er heute als Verantwortlicher einer sich verändernden Wohnraumsituation wieder auferstanden.
Das Feindbild des »Yuppies« folgt kurz danach. Ausgemacht wurden diese zuletzt im »Pivo«, einer nicht mehr ganz frischen Kneipe in Connewitz. Hier trinken verschiedene Leute wahlweise ihr Bier, ihren Schnaps oder ein Mixgetränk. Altlinke genauso wie Hipster, Hools und Ultras ebenso wie Feministinnen, Skins zusammen mit Techno-Hedonisten. Menschen aus dem Kiez eben. Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch für Chemie-Fans ist der Laden ein Stück Lebenswelt geworden. Hier kann gefeiert werden, hier diskutiert man bis zum nächsten morgen, hier tanzt man auch mal auf den Tischen. Vor ein paar Tagen wurde das »Pivo« – neben anderen Objekten – zum Ziel einer klandestinen nächtlichem Attacke. Die kaputten Scheiben kann man dabei unter Umständen verschmerzen und dem bisweilen rauen Umgang im Stadtteil zuschreiben. Den Bekennerbrief und seine Argumente zu ignorieren geht leider nicht. Dort wurde in einem analytischen Parforceritt neben einem Pizzaladen, einer Versicherungsfiliale die angebliche Yuppie-Kneipe als Feinbild markiert und klargezogen. Warum es das »Pivo« getroffen hat und nicht den benachbarten Laden für hippe Hundenahrung oder gar das viel teurere »Zest« bleibt unklar. Ob es wirklich um die Bierpreise geht, auch. Denn das kostet in der »Frau Krause«, im »Heinz« oder im »Billhart« annäherend genauso viel. Die Kneipe »Pivo« wurde Ziel, »weil sie ein weiteres Konsumangebot für Yuppies und Hippster mit einem dickeren Geldbeutel ist. Sie ist Teil einer Infrastruktur, die den Standort Connewitz für Kapitalflüsse und große Investor*innnen im Immobiliengeschäft attraktiv macht und die Umgestaltung des Viertels von oben als Ziel hat. Für reiche Leute braucht es auch teure Läden.« So steht es zumindest im »Bekennerschreiben« (Fehler im Original) geschrieben. Das »Pivo« als maßgeblich für »Kapitalflüsse« und Magnet für die globale »Investorenschaft«? Gar als essentieller Teil einer Überfremdungsstrategie im Stadtteil? Verfolgt man diese These weiter, ließe sich fragen, ab wann und wie man eigentlich »dazugehört«? Ab wann genau ist man ConnewitzerIn? Qua Geburt? Nach fünf Jahren? Nur mit echten Connewitzer Eltern?
Wäre die Aktion nicht so tragisch – man könnte sie als Witz der Geschichte einfach links liegen lassen. Wie gesagt, es geht nicht wirklich um die kaputten Scheiben. So richtig zum Lachen ist uns uns aber zur Zeit nicht mehr zumute. Das liegt auch daran, dass der Kampfbegriff der Gentrifizierung von manchen Aktiven und politischen Gruppen völlig grotesk überdehnt und auf nahezu alle Phänomene in der Stadt angewandt wird, auch wenn sich keine empirischen Belege dafür finden lassen. Statt Analyse und Kritik wird damit auf moralische Empörung und möglichst viel Action gesetzt, die nicht weiter begründet werden müssen. Eine fatale Entwicklung. Wir haben keinen Bock auf diese Form analytischer Unterkomplexität, wir finden Kneipen wie das »Pivo« gut und wichtig. Wir wollen die »alten und gewachsenen« Strukturen in Connewitz – seinen Charme, seine kulturellen und kulturpolitischen Strukturen – nicht missen, denken aber auch, dass Veränderung und Weiterentwicklung dem Stadtteil ab und an gut tut. Diese Ambivalenzen halten wir aus.
Solidarität mit dem »Pivo«!
Gegen Verdrängung im Stadtteil und gegen falsche Feindbildkonstruktionen!
Rechtshilfekollektiv Chemie Leipzig, 27.Dezember 2018